von Pfr. Jochen Eberhardt
Liebe Gemeinde,
die Spannung von „Gemeinschaft und Alleinsein“ beschäftigt uns in diesen Tagen. Gerne wären wir zusammen, würden gemeinsam Gottesdienste feiern – aber wir brauchen noch Geduld.
Eigentlich hatte ich für diesen Sonntag einen Gedenkgottesdienst für Dietrich Bonhoeffer geplant, dessen Todestag sich in diesem Monat zum 75. Mal jährt - nun gebe ich stattdessen Gedanken von ihm weiter, die in unsere aktuelle Situation sprechen.
Auch er hat sich Gedanken zu Gemeinschaft und Alleinsein gemacht. Bonhoeffer stellt in der unten zitierten Textpassage „Gemeinschaft“ und „für sich sein“ gleichberechtigt nebeneinander, ja, bezieht beide aufeinander. Und er warnt: „Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemeinschaft“ und umgekehrt: „Wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein.“
Seine erläuternden Ausführungen stehen teilweise scheinbar im Widerspruch zueinander („Allein standest du vor Gott, als er dich rief, …“ gegen „In der Gemeinde bist du berufen, der Ruf galt nicht dir allein, …“). Doch gerade so zeigt er die Spannung zwischen den beiden Polen und ihre Gleichwertigkeit („Es ist nicht so, dass eins vor dem andern wäre, …“).
Wer sich selbst gefunden hat und weiß, wer er – für sich - ist, kann auch die Gemeinschaft bereichern. Und umgekehrt stützt und korrigiert die Gemeinschaft den Einzelnen.
Ich verstehe Bonhoeffer in unseren Tagen so, dass er allen, die sich einsam fühlen, zuruft:
Sucht aktiv die Gemeinschaft mit anderen – soweit es unter den gegebenen Umständen möglich ist.
Sprecht mit den Nachbarn über den Zaun, nutzt die technischen Möglichkeiten von Telefon und Internet, frischt alte Beziehungen auf.
Macht euch bewusst, dass Gott auch euch in eine Gemeinschaft gestellt hat.
Und lebt diese geistliche Gemeinschaft, die in Jesus Christus gründet. Sicher – sie ist defizitär, solange sie nicht durch die unmittelbare Nähe anderer erfahrbar ist. Aber sie ist da. Jesus Christus verbindet und eint uns – auch über die Distanz hinweg. Nutzt Stunden des Alleinseins bewusst, um zur Stille zu kommen und auf Gottes Wort zu hören („Das Wort [Gottes] kommt nicht zu den Lärmenden, sondern zu den Schweigenden.“ Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, S. 66) und zu beten. Andere tun es wie ihr. Und wenn ihr unter dem Entzug von Gemeinschaft leidet, dann freut auch darauf, sie hoffentlich bald wieder zu erfahren.
Das bekannteste Gedicht Dietrich Bonhoeffers entstand wenige Monate vor seiner Ermordung. Er, der in der Haft selbst unter Einsamkeit und Existenzängsten litt, schrieb es zum Trost für seine Verlobte und die Familie:
Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Diese Zuversicht und Gottes Segen wünsche ich Ihnen für jeden neuen Tag!
Jochen Eberhardt
Der Text, den ich zum selbständigen Nachdenken weitergeben möchte und auf den ich mich oben beziehe, stammt aus Dietrich Bonhoeffers Buch: Gemeinsames Leben, 1939, S. 64f.:
„Viele suchen die Gemeinschaft aus Furcht vor der Einsamkeit. Weil sie nicht mehr allein sein können, treibt es sie unter die Menschen. Auch Christen, die nicht allein mit sich fertig werden können, hoffen in der Gemeinschaft anderer Menschen Hilfe zu erfahren. Meist werden sie enttäuscht und machen dann der Gemeinschaft zum Vorwurf, was ihre eigenste Schuld ist. Die christliche Gemeinschaft ist kein geistliches Sanatorium. Wer auf der Flucht vor sich selbst bei der Gemeinschaft einkehrt, der mißbraucht sie zum Geschwätz und zur Zerstreuung, und mag dieses Geschwätz und diese Zerstreuung noch so geistlich aussehen. In Wahrheit sucht er gar nicht die Gemeinschaft, sondern den Rausch, der die Vereinsamung für kurze Zeit vergessen läßt und gerade dadurch die tödliche Vereinsamung des Menschen schafft. Zersetzung des Wortes und aller echten Erfahrung und zuletzt die Resignation und der geistliche Tod sind das Ergebnis solcher Heilungsversuche.
Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemeinschaft.
Er wird sich selbst und der Gemeinschaft nur Schaden tun.
Allein standest du vor Gott, als er dich rief, allein mußtest du dem Ruf folgen, allein mußtest du dein Kreuz aufnehmen, mußtest du kämpfen und beten, und allein wirst du sterben und Gott Rechenschaft geben. Du kannst dir selbst nicht ausweichen; denn Gott selbst hat dich ausgesondert. Willst du nicht allein sein, so verwirfst du den Ruf Christi an dich und kannst an der Gemeinschaft der Berufenen keinen Anteil haben. „Wir sind allesamt zum Tode gefordert und wird keiner für den andern sterben, sondern ein jeglicher in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen … ich werde dann nicht bei dir sein, noch du bei mir“ (Luther).
Umgekehrt aber gilt der Satz: Wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein.
In der Gemeinde bist du berufen, der Ruf galt nicht dir allein, in der Gemeinde der Berufenen trägst du dein Kreuz, kämpfst du und betest du. Du bist nicht allein, selbst im Sterben und am Jüngsten Tage wirst du nur ein Glied der großen Gemeinde Jesu Christi sein. Mißachtest du die Gemeinschaft der Brüder, so verwirfst du den Ruf Jesu Christi, so kann dein Alleinsein dir nur zum Unheil werden. „Soll ich sterben, so bin ich nicht allein im Tode, leide ich, so leiden sie [die Gemeinde] mit mir (Luther).
Wir erkennen: nur in der Gemeinschaft stehend können wir allein sein, und nur wer allein ist, kann in der Gemeinschaft leben. Beides gehört zusammen. Nur in der Gemeinschaft lernen wir recht allein zu sein, und nur im Alleinsein lernen wir recht in der Gemeinschaft zu stehen. Es ist nicht so, daß eins vor dem anderen wäre, sondern es hebt beides zu gleicher Zeit an, nämlich mit dem Ruf Jesu Christi.
Jedes für sich genommen hat tiefe Abgründe und Gefahren. Wer Gemeinschaft will ohne Alleinsein, der stürzt in die Leere der Worte und Gefühle, wer Alleinsein sucht ohne Gemeinschaft, der kommt im Abgrund der Eitelkeit, Selbstvernarrtheit und Verzweiflung um."